Krokodilstränen im Legoland

In seinem als „Kinderparadies“ deklarierten Schauraum stellt Robert F. Hammerstiel einen Bereich gesellschaftlicher Verhältnisse ins Zentrum, der unter anderem auch die Frage nach dem gegenwärtigen Status sowohl des Kindes als auch des Erwachsenen innerhalb westlich geprägter Kulturräume aufwirft und mit mannigfaltigen Verkehrungen, Paradoxien, Widersprüchen und illusionären Verkennungen verbunden ist. Genauer gesagt steht eine Neubewertung des Kindes auf dem Prüfstand, was allerdings mit Infantilisierungstendenzen innerhalb der Welt der Erwachsenen einhergeht. Unter einer solchen Inversion von Freiheitsräumen verbergen sich allem Anschein nach Ambivalenzen gegenüber einer sozialen Ordnung, die als sogenannte postmoderne Erlebnisgesellschaft den Anforderungen ökonomistisch geprägter Herrschaftsstrukturen zu entsprechen bestrebt ist. So wird unter einem Imperativ des Genießens und befördert durch ein Phantasma von der Aufhebung des Mangels eine konsumistische Lebenshaltung propagiert, deren Denken in Begriffen von Wachstum und Reifung nur bedingt auf individuelle Entwicklungen und humanistisch orientierte Zielvorstellungen gerichtet ist. Vielmehr ist diese weitgehend und auf Kosten sozialen Fortschritts auf eine sich permanent steigernde Güterproduktion und auf die Perfektionierung einer artifiziellen technizistischen Gegenwelt übergewechselt.

Philippe Ariès erbringt in seinem Standardwerk „Die Geschichte der Kindheit“ den Nachweis, dass die uns gewohnte Vorstellung hinsichtlich der Unterscheidung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen keineswegs selbstverständlich ist und als solche erst ab dem 16. Jahrhundert sinnfälliger in Erscheinung tritt. Insbesondere mit der Epoche der Aufklärung entwickelt sich ein spezifischer kindlicher Lebensbereich, der mit einer Absonderung des Kindes von der Welt der Erwachsenen einhergeht. Ikonografische Belege verdeutlichen es: Während in der Bilderwelt des Mittelalters das Kind, sofern es überhaupt außerhalb religiöser Kontexte thematisch und formal Beachtung findet, wie ein kleiner Erwachsener abgebildet wird, finden nunmehr Abbildungen von Kindern in verschiedensten Kontexten, ausgestattet mit wesensgemäßen Attributen und eingebettet in allegorische Bedeutungszusammenhänge, weite Verbreitung. An die Stelle von Dokumenten einer mittelalterlichen Universalgesellschaft, deren Zerstreuung nicht nur die Segregation der Kinder hervorbringt, sondern auch mit einer auf Distanzierung bedachten Differenzierung von Klassen und Ständen einhergeht, treten nunmehr um Kinder zentrierte Familienporträts. Im Auftauchen der weltlichen Familie als ikonografisches Motiv manifestiert sich die neue vormoderne Gesellschaftsordnung, die unter der Auflösung eines zuvor hohen Grades an Sozialität eine immer schärfere Trennung von Öffentlichkeit, Privatheit und Beruf nach sich zieht. Durch die nun in den Vordergrund rückende emotionale Realität etabliert sich ein neuer Status des Kindes und später auch des Jugendlichen, der sich nicht nur im äußeren Habitus, nicht nur in den Vergnügungsaktivitäten, sondern auch in den Charakteristiken des Körpers sowie in einer genuinen Mentalität Ausdruck verschafft. Das habituelle Kleidchen anstelle miniaturisierter Erwachsenenbekleidung tragen zunächst beide Geschlechter, bevor der Knabe mit acht Jahren in Hosen schlüpft. Die als asexuell betrachtete Kindheitsphase verleiht dem Kind einschließlich seines nackten Körpers das Merkmal der Unschuld, für deren Aufrechterhaltung eine sitten-strenge Erziehung und die Tabuisierung der Sexualität, die auch den Erwachsenen eine Mäßigung des Trieblebens auferlegt, vorausgesetzt werden. Hatten in den mittelalterlichen Schuleinrichtungen, die der Allgemeinheit nur bedingt zugänglich waren und welchen es an gesonderten und deutlich umschriebenen Unterrichtsinhalten mangelte, noch Jung und Alt miteinander gelernt, so wird nun unter der zunehmenden Bewusstwerdung der Sonderstellung von Kindern und Jugendlichen auf eine Trennung in Altersklassen und Schulstufen größerer Wert gelegt, nicht zuletzt auch, um im Sinne einer christlichen Ideologie die Schüler von weltlichen Versuchungen fernzuhalten. War den weiblichen Kindern, ja allen weiblichen Personen überhaupt der Zugang zu den frühen Kollegs im 15. Jahrhundert gänzlich verwehrt, so erfolgt ihr späteres und zögerliches Eindringen in die klar männlich dominierte Schulwelt nur unter den Bedingungen einer strengen Geschlechtersegregation. In Verbindung mit erzieherischem Druck bildet sich schließlich der Typus des braven und wohlerzogenen Kindes heraus, der als solcher der Zeit vor dem 19. Jahrhundert noch unbekannt war. Allerdings wird es noch bis in diese Zeit hinein dauern, bis sich die Prinzipien der uns vertrauten Bildungsinstitutionen mit ihrer Homogenisierung von Alters- und Schulstufen, mit ihrer Gleichstellung von Wissensstand und Altersgruppe und mit der Differenzierung von Schultypen als der notwendigen Folge einer forcierten Trennung von Aristokratie, Bürgertum und dem einfachen Volk durchsetzen.

Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden gesellschaftlichen Umwälzungen, die mit der industriellen Revolution zur Bildung neuer sozialer Klassen führen, sind durch einen Mentalitätswandel gekennzeichnet, der im Zuge des beginnenden Niedergangs des Patriarchats und der zunehmenden Emanzipation der Frau auch den koexistierenden Generationen neue Rollenbilder auferlegt und somit auch den Status des Kindes neu definiert. Die Entdeckung der frühkindlichen Sexualität berechtigt nun zum Zweifel an der Unmündigkeit des Kindes und erschüttert das Dogma der kindlichen Unschuld und Reinheit, was schließlich zu einer Aufweichung und Verwischung der Grenzen zwischen den Lebensabschnitten führt und an Verhältnisse denken lässt, wie sie für die Zeit vor der Aufklärung typisch sind. Allerdings zeigen sich Unterschiede: Einerseits finden die Tendenzen zur neuen mikrosozialen Universalisierung nicht mehr im Rahmen größerer familialer Komplexe ohne schärfere Differenzierung von Privatheit und Öffentlichkeit statt, sondern innerhalb sich mehr und mehr isolierender kleiner Familien. Andererseits sind zunehmende Durchdringungs- und Vermischungsprozesse spürbar, welche die generationellen Grenzen aufweichen und zu gegenseitigem Anpassungsverhalten Anlass geben. Während die vormoderne Stellung des Kindes als kleiner Erwachsener zwar zur Teilhabe an der Erwachsenenwelt berechtigt, aber eine mitbestimmende Funktion in der patriarchalisch ausgerichteten hierarchischen Ordnung ausschließt, zeigen sich in der Postmoderne Durchmischungen, die durch die mittlerweile instabil gewordenen Kleinfamilien und deren weitgehendem Ersatz durch alternative familiale Lebensformen gefördert werden. Indem bei deren Zusammensetzung die Prinzipien biologischer Abstammung an Bedeutung verlieren, gestaltet sich das Heranwachsen des künftigen Erwachsenen sehr variabel, relativ unverbindlich auf Grund gelockerter Traditionszwänge und oft frei von stabilen Markierungen. Soziologen sprechen von einem neuen, dissoziativen Sozialisationstyp als Nachfolger des narzisstischen Typs, konform zur Entfaltung einer „Big-Brother-Society“, welche dem Niedergang patriarchalischer Strukturen Rechnung trägt und Ansätze zur Herausformung einer Disziplinierungs- und Überwachungsgesellschaft bei weitgehend anonymen und entpolitisierten Machtstrukturen in sich birgt. Die damit verbundenen Tendenzen zur intergenerationellen Nivellierung münden bisweilen in paradoxe Verkehrungen, in welchen sich dann ein als mündig betrachtetes Kind einem entmündigten Erwachsenen gegenübergestellt sieht. In diesen Fällen erfahren sowohl die Rechte des Kindes – etwa auf eine Sozialisation innerhalb einer um Chancengleichheit bemühten Solidargemeinschaft – als auch die Würde des Erwachsenen empfindliche Einbußen. Eine Überhöhung der Konzeption vom intelligenten Säugling und vom begabten, aufgeklärten und bedürfnisbewussten Kind kann dann ebenso zu Über-forderungen Anlass geben wie die Bestimmung des Kindes als Partnerersatz in Alleinerziehersituationen oder seine Parentalisierung als Zwang zur Übernahme von Elternfunktionen in familiären Konstellationen mit allzu großer Skepsis gegenüber Autorität und Vorbildwirkung. Auf der anderen Seite wiederum sind Forderungen wie lebenslanges Lernen unter permanenten Evaluierungsprozeduren, Eingriffe und Bevormundungen in privatpersönliche Bereiche, pseudokollegiale Kommunikationsformen, überzogene Regulierungen des Genussverhaltens oder aber das Bild vom Politiker, der seine Hausaufgaben zu machen hat, kaum dazu geeignet, das Selbstbewusstsein des Erwachsenen als solchem zu festigen, um seinem Abhängigkeitsstatus entwachsen zu können. Durch eine Verlagerung von Pädagogik auf die Erwachsenenwelt würde auch der mit der Aufforderung verbundene Hauptgedanke der Aufklärung verfehlt, nämlich sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.

Sofern die Auseinandersetzungen mit diesen Wirklichkeiten nicht zur Schaffung von verheißungsvollen Utopien Anlass geben – wovon man heutzutage allem Anschein nach Abschied genommen hat – oder aber in zukunftspessimistische dystopische Erzählungen münden – was wiederum sehr verbreitet ist –, können auch systemimmanente Dispositive dem Unbehagen der realen sozialen Verhältnisse wirksam begegnen. Über eine hedonistische Umdeutung bedrückender Alltagsrealitäten hinausgehend, stellen sie sich als artifizielle Gegenwelten dar, deren Fiktionalitätscharakter sich allerdings durch den Umstand verflüchtigt, dass sie auch tatsächlich gelebt werden. Es sind diese Plätze, die Robert F. Hammerstiel mit künstlerischem Spürsinn und fotografischer Genauigkeit immer wieder und variantenreich en gros und en détail ins Bild rückt. In Form von seriell angeordneten Siedlungen oder aber von isolierten und festungsähnlich eingefriedeten Bungalows sind es Örtlichkeiten mit penibel anmutender Ordnung, ins Sterile hineinreichender Sauberkeit und Frieden suggerierender Stille, in denen auch die kleinbürgerliche Idylle ein neues und zeitgemäßes Habitat vorfindet. Die Flucht ist geglückt, das Paradies ist erreicht. Und dass es Illusion ist, verdeckt die Illusion.

Als wäre es ein Privileg, in diesen Fiktionen zu leben: Es sind nicht viele Menschen, die diese spielzeugartigen Häuser mit ihren kleinen Parzellen und ihren winzigen Swimmingpools bewohnen; bisweilen sind sie Paare, bisweilen kleine Familien oder Familienfragmente; und es sind nicht viele Kinder, die hier spielen oder auf den bereitgestellten Spielgeräten turnen, rutschen, klettern; das kleine Café in den „New Tales of Pleasantville“ bleibt leer, und das Krankenhaus fungiert nur als Alibigebäude für eine nutzlos gewordene Öffentlichkeit in Anbetracht des sich selbst versorgenden Eigenheims. Es scheint, als wäre ein solches Refugium die Realisierung der Wohnträume jener kleinen und stolzen Baumeister, die in den Lego-Häusern ihrer „Private Territories“ einen bereits lebendigen Ausdruck finden.

Der Kunststoff, aus dem diese Träume sind, wird von den Angeboten der Baumärkte und der Lagerhäuser bereitgestellt. Stilistisch erfasst vom Kanon einer buntgrellen Werbeästhetik, verliert sich in ihnen aber nicht nur die Unterschiedlichkeit von Gebrauchsgegenstand und Spielzeug, welche allenfalls noch durch den Kontrast der Größenverhältnisse erkennbar ist. Denn davon abgesehen realisiert sich im cellophanierten Haustier auch das Paradox entseelten Lebens, parallel laufend zur vakuumverpackten Puppe, die an-gesichts ihrer adultomorphen Verkörperung – etwa als Musterpaar Barbie und Ken – ihrer ursprünglichen Aufgabe entwachsen ist: nämlich jenes Begehren und jenes Baby zu repräsentieren, mit dem das kleine Mädchen heimlich schwanger geht, um seiner zukünftigen mütterlichen Bestimmung entgegenzuträumen.

In solchen Lockerungen der Grenzen von Dingwelt und Lebenswelt mit ihren gegenseitigen Durchdringungen spiegelt sich die Nivellierung der generationellen Differenzen, die mit den erforderlichen progressiven und regressiven Retuschen das Bild jener zeit- und alterslosen Menschen zeichnet, wie sie einer exzessiven Konsum- und Warenwelt dienlich sind. Dementsprechend finden sie in Hammerstiels fotografischen Arbeiten, Objekten und Installationen ihre adäquate Darstellung als Tableaux vivants: als Verlebendigung der Bildergalerie der Versandhauskataloge. Die Welt als Ware und Performance. Denn in „Pleasantville“ hat die Performance dem Spiel bereits vor dessen Gebrauch den Rang abge-laufen. Bisweilen breitbeinig, vielleicht ein wenig erotisch, aber keinesfalls lasziv performen die kleinen Erwachsenen und präsentieren sich selbstsicher als Models, als Sänger mit und ohne Karaoke, als Akteure, deren besondere Fertigkeit darin besteht, über ihren Gefühlsausdruck frei verfügen zu können. So darf hier auch geweint werden. Aber keine Sorge, die Tränen sind nicht echt und lohnen sich. Emotion auf Bestellung heißt auch Weinen gegen Bezahlung.

Wie weit trägt diese Täuschungskraft? Gilt sie auch für die offensichtliche Tristesse, die hinter den schmucken Häuschen an unglückliche „Private Stories“ denken lässt?

Aber ja, es ist doch alles in bester Ordnung!

August Ruhs, 2018