Poesie, Kritik und Ironie

Gedanken über Anwesenheiten und Abwesenheiten in den fotografischen Bildern Robert F. Hammerstiels

Am 27. September 1983, in dem kleinen walisischen Badeort Borth, fertigte Robert F. Hammerstiel zum letzten Mal für viele Jahre Fotografien an, in denen Menschen zu sehen sind.

"Einsame, meist alte Menschen werden zu Requisiteuren der Verlorenheit und Vergänglichkeit" schrieb Wolfgang Hilger 1985 in dem - damals zum "schönsten Buch Österreichs" - preisgekrönten ersten Fotoband Robert F. Hammerstiels "An Bord". Jetzt, fast fünfzehn Jahre später, konfrontiert Hammerstiel die Besucher seiner Ausstellung in Saarbrücken mit Porträtfotos von Hundebesitzern (in "Rex"), deren unmittelbare Frontalität, gemessen an der sonst von ihm gewohnten medialen Distanziertheit, geradewegs rüde wirkt.

Wer das Werk des Künstlers seit längerem verfolgt, muß von den 1997 für Saarbrücken konzipierten Arbeiten irritiert sein - aus anderen Gründen, als es die meisten Ausstellungsbesucher, die das Gesamtwerk nicht kennen, möglicherweise sind. Obwohl, Tiere gab es, hin und wieder, auch in den Fotografien der achtziger Jahre noch zu entdecken, und zwar an wichtigen Stellen. Der kleine Hund in Brighton oder Hastings, festgehalten im Oktober 1982 für "An Bord" am äußersten Rand des Bildes, war bis "Rex" das einzige Lebewesen, welches in Hammerstiels Kameraauge geblickt hat. Dieser Hund steht aber genausowenig für sich selbst wie die Hausgänse bei einer aufgelassenen Tankstelle in Götzis (Vorarlberg), die Hammerstiel zwischen 1985 und 1988 für das Portfolio "Stand-Orte" fotografiert hat. Beides, Hund und Gänse, verweist auf Menschen, denen es zugehört. So zur Gänze außer der Welt ist die Tankstelle in Götzis also nicht, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat.

Die Gänse laufen von rechts her ins Bild und paradoxerweise gleichzeitig aus ihm heraus, denn ihr Ziel ist hinter einer Bretterwand nicht erkennbar. An solchen Bildern konnte der Blick geschult werden für jene ganz anderen, die Hammerstiel folgen ließ. 1994 schrieb Michael Müller im Katalog zur Ausstellung "make it up" im Bremer Focke-Museum, die eindringliche Spannung in Hammerstiels Arbeiten der Jahre 1988-1994 verdanke "sich auch deshalb der Abwesenheit der Menschen in den Photographien, weil so die Anwesenheit des Betrachters imaginiert werden kann". Der Autor läßt allerdings offen, welchen "Betrachter" er meint - den Fotografen als den Betrachter der abgelichteten Wirklichkeit oder den Betrachter der Fotografien?

Die notwendige, reale Anwesenheit des Fotografen, um das Bild herstellen zu können ... die imaginierte Anwesenheit des Betrachters vor dem fotografischen Anblick und ihre tatsächliche vor der Fotografie ... die Abwesenheit von Lebewesen, die gleichwohl ihre Spuren hinterlassen und ihre Zeichen gesetzt haben ... in welchen Zusammenhang lassen sich diese Objekt-Subjekt-Beziehungen bringen?

Die Saarbrücker Anordnung fotografischer Surrogate inszeniert ein Thema mit Hilfe einer dialektisch strukturierten Methode, die Hammerstiel seit vielen Jahren so sehr verfeinert hat, daß sie nicht immer gleich erkannt wird und ihre Schritte nicht immer gleich differenziert werden können. Ich meine, Hammerstiel bedient sich eines Dreischritts aus Poesie, Kritik und Ironie - wobei letztere auch als Gradmesser für die Reife seines Werkes herangezogen werden kann, ging sie seinem Frühwerk doch zur Gänze ab.

"Glücksfutter" ist der Name dieser Inszenierung, und er wirkt nicht weniger ironisch, poetisch und kritisch wie "make it up" oder "Der Stand der Dinge".
Das Thema ist, so sei es behauptet, nicht die Abwesenheit, sondern die Anwesenheit; das Zugegensein des Menschen, das heißt: zu und gegen etwas gerichtet sein. Die Fotografien Robert F. Hammerstiels sind Äußerungen eines hellwachen Auges, dem nichts gleichgültig sein kann; Aufforderungen an die Betrachter, genau hinzusehen und die Dinge gegeneinander abzuwägen - umso bedachtsamer, je alltäglicher und vermeintlich näher sie sind. Denn umso gefährlicher sind sie; Glücksfutter, das schnell zur Übersättigung führt. 

In den Katalog zur Ausstellung "Der Stand der Dinge " (1991 – 1992 an sechs Orten in vier Ländern gezeigt) hat Hammerstiel die ersten von ihm als Kind gemachten Fotografien aufgenommen und sich vor dem Titel "Eine weitere schwere Reise nach Hause: Die ersten Bilder " nicht gescheut. Bei den Portfolios, die "Der Stand der Dinge" vereint, ging es ihm, wie er selbst geschrieben hat, um die alltägliche, abgenutzte, abgewohnte und "somit nicht mehr bewußt wahrgenommene Intimität". Um jene der "Heimat" also. Die Titel der einzelnen Kapitel von "Der Stand der Dinge" - "Grüne Heimat", "Mittagsporträts" und "Public Intimity" - sprechen für sich. Und es ging, speziell wohl auch mit den "ersten Bildern", um die "Instandsetzung einer Erinnerung" (R.F.H.). Aber jede Erinnerung ist mehr Konstruktion als Re-Konstruktion; sie instand setzen kann nur heißen, sie wirksam zu machen für jetzt und die Zukunft - sie in den (ihr zukommenden) Stand setzen.

Instandsetzung, "Der Stand der Dinge", "Stand-Orte" als Titel für die Fotografien von aufgelassenen, verfallenen Tankstellen, ... Einen Standpunkt zu beziehen, sich zugegen machen, das ist Hammerstiel wichtiger geworden, als zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort auf den Auslöser eines Fotoapparates zu drücken. Das überläßt er neuerdings sogar anderen. Für "Rin-tin-tin" sind einige Familien in seinem Herkunftsort in Niederösterreich mitsamt ihrem Haustier vor die Kamera eines Studiofotografen getreten. Das heißt: Es ist dem Künstler Robert F. Hammerstiel nicht mehr so wichtig, den Bildausschnitt, den Zeitpunkt des Abdrückens, die Belichtungsverhältnisse zu bestimmen und zu gestalten. Das läßt sich in der Tat durch andere erledigen. Hammerstiel hat sich als Autor emanzipiert - Er, ein ehemaliges Musterbeispiel für die österreichische Autorenfotografie im engeren Sinn, ordnet an (in diesem und in jenem Sinn), wählt aus, arrangiert. Die Konzeption von "Glücksfutter" war auch ein monatelanges Arrangieren, Abwägen von Möglichkeiten, um zu einer größtmöglichen Präzisierung des Themas anhand bestimmter Anlässe vorzustoßen.

Die Sorgfalt bei der Abwägung geringster Bedeutungsverschiebungen entspricht der früheren bei der Kadrierung der einzelnen Fotografien. Hammerstiel wendet die Sorgfalt des Poeten an, der jedes einzelne Wort prüft, ehe er es an ein anderes bindet. In seinen ersten Portfolios stoßen wir noch auf eine sehr formale, an klassischen Regeln orientierte Poesie. Woran aber seit Ende der achtziger Jahre experimentiert wurde, das findet nun seine Synthese in "Glücksfutter", der durchgängigen und abgründigen Erzählung vom kleinen, intimen Glück, das genährt werden will, gefüttert wie das Haustier und gegossen wie die Zimmerpflanze, die ihre Pfleger dafür "reich belohnt", wie es in diesbezüglichen Hobby-Büchern und Hauszeitschriften vielversprechend und banal metaphorisch heißt.

Die poetische Denkungsart Hammerstiels, die sich spätestens seit "Der Stand der Dinge" mehr und mehr ironisch zu verstehen gibt, zeigt sich schon im Titel: "Futter" ist geläufigerweise nicht nur die Bezeichnung von Tiernahrung, sondern auch - so sagt es das herangezogene Konversationslexikon - der "Innenauskleidung von Oberbekleidung"; "gefüttert" werden nicht nur die Kühe im Stall, sondern auch Rock und Hose. Die "Innenauskleidung" des Glücks? "Glück" kann auch ein Habitus sein, zur Schau gestellt - auch und gerade vor dem Fotografen, der davon Zeugnis ablegen soll. Hammerstiel inszeniert die Abgründe, die hinter diesen Glücks-Kulissen versteckt sind, ohne dramatische Effekte, unspektakulär und nicht erschütternd, sondern als Ansammlung fotografischer Dokumente des Banalen. Dieses Banale kann auch ein Ergebnis hochentwickelter Technologie sein, wie der "Transponder", eine Art elektronischer Tätowierung oder elektronischen Piercings, die das Einzelne als Individuum absichert und erkennbar macht, auch wenn es aufgrund aller seiner sinnlich wahrnehmbaren Beschaffenheiten völlig undifferenzierbar sein sollte.

Hammerstiels - bis vor kurzem auf das klassische Portfolio hin konzipierte - Arbeiten in Serien und Gruppen sind Indiziensammlungen, mit deren Hilfe sich das Schreckliche unseres Alltages, unserer kleinen, wohnlich eingerichteten Welt beweisen läßt. Es ist wie im Fernsehkrimi: Die Leiche ist schon fortgeschafft, ihr Umriß als Kreidestrich auf dem Boden noch zu sehen, und "die Kollegen von der Spurensicherung" suchen vorsichtig, mit weißen Handschuhen an den Händen wie der Fotograf beim Umgang mit seinen Cibachromen, alles zusammen, was irgendwie - keiner weiß, wieso und wodurch - interessant sein könnte; nicht, ohne jedes einzelne Stück an seinem Fundort zu fotografieren. Die Wirklichkeit einer solchen Situation wäre bedrückend. Die Szene im Fernsehen ist Routine für die Betrachter, in den seltensten Fällen spannend. Die Fotokartei der Spurensicherungsgruppe mag auf den ersten Blick langweilig, obskur oder belanglos wirken. Aber erst sie und der beharrliche Umgang mit ihr liefern das Material für das Verständnis der Situation am Tatort, für die Kritik des Textes "Mord", der das Abwesende - das Verschwundene - aufgrund des Anwesenden zu rekonstruieren versucht.

Etwas kritisieren zu können setzt voraus, es erkannt zu haben. Hammerstiels Fotografien sind - im Gegensatz zu den Installationen der Ausstellungen - nicht kritisch, aber sie geben uns die Mittel in die Hand, die den Fotografien zugrundeliegende Wirklichkeit kritisch zu reflektieren. Diese Wirklichkeit - so stellt sich durch den Blick des Fotografen Hammerstiel heraus - ist eine Ersatzwelt. Von ihren Surrogaten stellt Hammerstiel abermals Surrogate her. Seine Fotografien erfüllen die Erwartungshaltungen, mit denen wir - auch jene Betrachter, die über einen elaborierten Blick verfügen - an Fotografie herangehen, immer weniger. Ausschnitt, Perspektive, Licht spielen scheinbar keine Rolle mehr. In den Bildern ist nicht nur der Mensch abwesend, die Fotografie selbst scheint sich aus ihnen fortgestohlen zu haben. Die Frage mag naheliegen, warum sich der Künstler nicht gleich der abgelichteten Objekte selbst bedient. Aber insoweit ist Hammerstiel immer noch - und reflektierter denn je - "Fotograf", als es ihm um das Medium, das apparativ erzeugte Bild von einer Sache und dessen Verhältnis zur Sache und zum Blick der Betrachter geht.

Nicht geht es Hammerstiel um die Duplizierung der Wirklichkeit in der Kunst und auch nicht um die Dekontextualisierung von Objekten, was zwangsläufig der Fall wäre beim Verzicht auf die Fotografie, und das hieße: beim Verzicht auf das Bild. Eine Erhellung des immer spezifischer werdenden Werkcharakters bringt der Vergleich von Ausstellungen und Publikationen. Das Buch, ursprünglich für die Fotografie das wichtigere Transportmittel als die Ausstellung, hat seine Bedeutung auch dann nicht verloren, wenn die Originale mehr als einen Quadratmeter groß sind oder so beschaffen, daß sie schlichtweg nicht mehr drucktechnisch adäquat wiedergegeben werden können, was zum Beispiel bei "out of the blue II" von 1996 oder "Aufdecken" von 1994 der Fall ist.

In "Der Stand der Dinge" hat Hammerstiel auf alle Angaben über Formate und Techniken verzichtet. Noch handelte es sich um klassische Autorenfotografie mit einem dokumentarischen Blick auf Objektsituationen, in denen mehrere verschiedene Gegenstände in einem realen Raum zueinander in Beziehung stehen; in denen ein Bedeutungsgefüge hergestellt wird, das erkannt werden soll. Mit den "Salzburger Blättern", großformatigen Fotografien von Geschenkpapieren mit Blumenmustern im Maßstab 1:1, ohne Verweis auf einen Bildraum (mit einer einzigen Ausnahme, wo eine gläserne Vase, fast unsichtbar, mit realen Blumen vor dem Papier steht), verläßt Hammerstiel den Bereich der Bilderherstellung im üblichen Sinn und beginnt sich intensiv mit dem Thema der Reproduktion auseinanderzusetzen, was bis zu den einzelnen Kapiteln von "Glücksfutter" führt. Irritieren die Werke in den Ausstellungen zuallererst oft nur aufgrund ihrer Formate - die Barbie-Puppen-Porträts in "make it up" sind 224x184 (x6 cm - der C-Print auf Aluminium im schweren, lackierten Holzrahmen hat bereits Objektcharakter!) - so ist es in den Publikationen ihre rahmenlose Freistellung, die nur manchmal unterbrochen wird von Abbildungen realer Ausstellungssituationen in Galerien und Museen. Nun wird auch die Beschriftung der Abbildungen wichtig (bis "Der Stand der Dinge" für Hammerstiel eine Störung der Bildseite und daher in den Anhang verbannt).

Reproduzierbare Objekte - die uns schon wegen ihrer beliebigen Reproduzierbarkeit nicht mehr verloren gehen können und daher in unserem Gedächtnis keinen Platz für sich beanspruchen müssen - werden von Hammerstiel fotografiert und, als Abbild, neuerlich reproduziert. Die Reproduktionen in "make it up" und einem zweiteiligen Ausstellungsfolder, den der Künstler 1997 für eine Ausstellung in Finnland hergestellt hat, entsprechen teilweise wieder den tatsächlichen Größen der Objekte. Damit wird die Aufmerksamkeit weg von der Fotografie als Medium, auf den wiedergegebenen Gegenstand gelenkt. In der herkömmlichen dokumentarischen Fotografie im engeren Sinn und abbildenden Fotografie im weiteren Sinn verschwindet die subjektive und manipulative Seite des Mediums. Die "Beweiskraft" der Fotografie ist, vieldiskutiert, widerlegt und heute ist klar, daß ein Foto nichts anderes beweist, als daß es zum Zeitpunkt seiner Herstellung eine (fotografische) Apparatur gegeben haben dürfte; und teilweise nicht einmal mehr das. Bei Hammerstiel verschwindet diese Apparatur selbst aus dem Gedankenfeld der Betrachtung, während das Manipulative und Subjektive bewußt bleibt. Anhand der Abbildungen in den Publikationen entsteht der Eindruck, die Fotografien würden die abgebildeten Objekte ersetzen wollen. In der Ausstellung, angesichts teilweiser Riesenformate, wird schnell klar, daß dies nicht die Absicht des Künstlers sein kann. Worum es Hammerstiel geht, ist nicht der Ersatz, sondern die Instandsetzung des Objekts als In-seinen-Stand-Setzung.

"Die blaue Lagune", von Peter Weiermaier bei Prospect '96 in Frankfurt gezeigt, war die Simulation eines Aquariums ohne Wasser, ohne Fische. Es dominierte der Eindruck einer Abwesenheit. "Die blaue Lagune II" bei "Glücksfutter" umfaßt den ganzen Raum, es dominiert der Eindruck der Anwesenheit: des Menschen in diesem Raum. Hammerstiel hält uns nicht - wie so viele andere Fotografen - einen Spiegel vor, in dem wir uns verzerrt wiederfinden, sondern simuliert für uns Situationen und zwingt uns in den Stand der Anwesenheit, des Zu-gegen-seins. Anwesenheit könnte auch als Präsenz beschrieben werden, als Gegenwärtigkeit. Fotografien sind bei Robert F. Hammerstiel nicht mehr Evokationen von Erinnertem, wollen nicht der Erinnerung dienen, sondern die Erinnerung in den Stand versetzen, etwas zu bewirken, was jetzt geschieht; mit Poesie, mit Kritik und mit Ironie.

Peter Zawrel, Wien 1998