Zurück in die Realität

Robert F. Hammerstiel setzt sich in seinen konzeptuell entwickelten fotografischen Serien, Videoarbeiten und Rauminstallationen mit der immerwährenden Sehnsucht des Menschen nach Harmonie, Geborgenheit, Orientierung und Idylle und den damit verbundenen Wunschprojektionen auseinander. Auf ihrer Suche nach Glück schaffen Menschen sich Strukturen von Ordnung, kleine, überschaubare Ersatzwelten wie das eigene Heim, das Haustier, die Topfpflanze und andere glücksversprechende Güter. In diesem Zusammenhang interessieren Robert F. Hammerstiel die Darstellungsmechanismen der Werbe- und Entertainment-Industrie, in der Sehnsüchte stereotyp vorgedacht, immer wieder neu erzeugt und in ästhetisch-suggestiven Bildern angeboten werden. Wie brüchig diese Ordnungen und Idyllen sind, darauf deuten zahlreiche Irritationen in den Arbeiten des Künstlers.

Eine Glück versprechende Ersatzwelt ist auch "Second Life“, ein Online-Computerspiel, auf das Robert F. Hammerstiel mit zwei Fotoserien und drei Videoarbeiten reagiert hat. "Second Life“ bietet die Möglichkeit, sich eine zweite Existenz, ein neues Leben als Avatar (Verkörperung des Users im Cyberspace) in einer virtuellen Welt aufzubauen. Im Spiel ist nahezu jede genormte Möglichkeit einer Wohn- und Lebensplanung umsetzbar; es eröffnet zahlreiche Spielarten von Projektionsflächen.

Das Annehmen einer virtuellen Identität als Avatar, verbunden mit einem "Leben“ in einer computer-konstruierten Welt, ist heute über den bloßen Zeitvertreib und das Spielerische hinaus zu einem existentiell konnotierten Unternehmen geworden. Der künstliche Raum, den man (in einem vorbestimmten Rahmen) mitgestalten kann, ist häufig mehr als ein Ausflugsziel, sondern vielmehr ein oft täglich für viele Stunden aufgesuchter Zufluchts-Ort, ein zweites Leben. Hier können Sehnsüchte und Träume erfüllt sowie Mängel an Schönheit, Glück, Ansehen, Reichtum, Besitz, Gesundheit und Selbstsicherheit kompensiert werden. So kann auch der gelähmte Jake Sully in James Camerons Film "Avatar“ wieder laufen, wenn er den Körper seines Avatars steuert.

Robert F. Hammerstiel setzt sich mit den Motivationen, Sehnsüchten und Aktivitäten der User von "Second Life" auseinander – u. a. zitiert er Äußerungen der User (Instant Vacations I und Instant Message) – sowie mit kollektiven Vorstellungen von Idylle (Landmarks).

Das Eintauchen (Immersion) in virtuelle Welten, wie in "Second Life“, bedeutet zunächst, seine Grenzen zu überschreiten, in neue, unbekannte Dimensionen einzutauchen, sich über das im "First Life“ Erreichte hinaus zu erweitern. Der virtuelle Ereignisraum beinhaltet neben dem Erweiterungspotential aber gleichzeitig Reduktion und Einengung. Indem man es sich bequem macht in virtuellen Räumen, die andere – die Entertainment-Industrie – vorerschlossen und -konstruiert haben, bleibt man gefangen und eingeschränkt in isolierten Paradiesen mit der Gefahr des Orientierungsverlusts im "First Life“. Die Trostlosigkeit standardisierter, klischeehafter Aktionsmöglichkeiten und die damit verbundene Verarmung des Users thematisiert Robert F. Hammerstiel in dem Video Pose Balls.

Die künstlerische Auseinandersetzung mit "Second Life“ beinhaltet fast zwingend die Beschäftigung mit den Wechselwirkungen und Interferenzen von realem und virtuellem Leben. Die Grenzen zwischen beiden verschwinden immer mehr: es werden nicht nur die Wünsche realer Individuen, der User, in der virtuellen Welt umgesetzt, sondern es zeigen auch umgekehrt Aktionen der Avatare Effekte in der Realität (z. B. auf virtuellen Kontakten basierende Gründungen von Partnerschaften im realen Leben). Durch die Vermischung beider Welten stellt sich die Frage nach dem Wesen von Realität. Da es keinen gemeinsamen und für alle verbindlichen Raum gibt, gibt es auch keine Wirklichkeit "an sich“. Wirklichkeit wird bestimmt durch unsere (unterschiedlichen) Vorstellungen, Lebenssituationen und Wahrnehmungsformen; alles ist Wirklichkeit, was wir uns erdenken.

Petra Noll