Die Fotografie, eine der wesentlichen Erfindungen des 19. Jahrhunderts, ist Ausdruck eines gebrochenen Verhältnisses zur Wirklichkeit, das die bürgerliche Weltsicht nach der Aufklärung kennzeichnet. Zwei sich widersprechende Tendenzen kommen in ihr zum Ausdruck: einerseits das Machtstreben, das sich aus dem Glauben nährt, souverän über die Welt verfügen zu können, andererseits eine skeptische Distanz zu den Dingen, die sich aus der Einsicht ergibt, daß unsere Kenntnis der Welt immer bruchstückhaft bleibt. Die Verwandlung der Welt in Bilder hat unser Verhältnis zur Wirklichkeit jedoch nicht klären können. Im Gegenteil: das fotografische Abbild, das nichts über die Bedingungen seines Zustandekommens aussagt und Kontexte durch ihre Ausschnitthaftigkeit zerstört, hat statt einer skeptischen Befragung der Dinge einen zerstreuten Blick gefördert, der einer mehr und mehr unübersichtlich werdenden Welt angemessen erscheint. Gleichzeitig hat sich die Fotografie aufgrund der Glaubwürdigkeit ihres Wirklichkeitsbezuges - der, wie Roland Barthes deutlich gemacht hat, eigentlich ein magischer Bezug ist - als ideales Mittel erwiesen, die Leerstelle aufzufüllen, die sich mit dem Ende der Metaphysik aufgetan hat. "Die Gesellschaften konsumieren jetzt Bilder statt Glaubensinhalte." 1) Über fotografische Bilder läuft auch die ästhetisierende Gleichschaltung der Antriebskräfte des Massenkonsums. Als Gleichschaltung wird die Steuerung der Wünsche und des Verhaltens jedoch nicht empfunden, da mit den serienproduzierten Verhaltensmodellen die Illusion der (Wahl-) Freiheit mitproduziert wird. So erscheinen die massenhaft verbreiteten Surrogate für Glück, Natur, Schönheit usw. dem individuellen Begehren als Mittel zur Herstellung der eigenen Individualität. Es ist jedoch eine Individualität ohne Identität, da reproduzierbare Individualität keine wirkliche Identität besitzen kann.
Die von Walter Benjamin beschriebene Parallele zwischen Massenproduktion und Reproduktion im fotografischen Bild gilt in den Diskussionen über Fotografie mittlerweile als Binsenweisheit, ebenso wie Adornos Feststellung, daß sich die Massenproduktion nach dem Prinzip der Verwertung und nicht nach dem Eigensinn eines kulturellen Inhalts oder der stimmigen Gestaltung eines Objekts richtet. Es leuchtet ein, daß von daher Bilder in der Konsumsphäre die Funktion erhalten, ästhetische und ethische Defizite aufzufüllen. Hier hat die Werbefotografie eine Position zwischen Verführung und Wahrheit eingenommen, wobei der Wahrheitsgehalt darin besteht, daß mögliche Welten in der Konsumgesellschaft sich in wirkliche verwandeln. Die verführerischen Bilder der Werbung sind jedoch dem gleichen Verschleiß unterworfen wie die Waren selbst, da die Objekte, auf die sich die Bilder beziehen, laufend ersetzt werden müssen.
Seltener sind wir uns der Tatsache bewußt, daß die massenproduzierten Objekte selbst Repräsentationen sind, also Bildcharakter haben. Sie sind sozusagen Repräsentationen eines fiktiven Originals, Objektivierungen von Vorstellungsbildern der Konsumenten und der ihnen zugrunde liegenden Mythen (Mythen, die von Macht, Sexualität, Schönheit, Natur sprechen). Insofern haben Fotografien, die Waren zeigen, etwas Tautologisches und treiben die Fiktionalisierung der Wirklichkeit in besonderer Weise voran. Wie aber kann dann der skeptische Teil des Weltbezuges überhaupt noch in der Fotografie zum Tragen kommen? Vor der Verflüchtigung des Lebens im Imaginären stellt sich nach Roland Barthes die ethische Frage. "Nicht etwa weil das Bild unmoralisch, gottlos oder teuflisch wäre (wie manche in der Frühzeit der Photographie behauptet haben), sondern weil es, in seiner Verallgemeinerung, unter dem Vorwand, die menschliche Welt zu illustrieren, sie ihrer Konflikte und Wünsche vollkommen entkleidet." 2) Interessant ist, daß Roland Barthes nicht Fotografie und Film, wie es allgemein üblich ist, in einen Topf wirft. Dem Film entgleitet das Reale ins Metaphorische durch die Bewegung. Das Foto läßt Zeit und erfordert Zeit für die Wahrnehmung und damit zum Denken. Er spricht also dem Foto gerade die Kraft zu, subversiv zu sein. "Letzten Endes ist die Photographie nicht dann subversiv, wenn sie erschreckt, aufreizt oder gar stigmatisiert, sondern wenn sie nachdenklich macht."3)
Roland Barthes hat eine Fotografie vor Augen, die ihren Doppelcharakter zwischen Schein und Wirklichkeit in besonderer Weise ausreizt, um den Zugang zu einem "Infra-Wissen" zu ermöglichen und einem bestimmten Fetischismus im Betrachter Nahrung zu geben. Auf diese potentielle Wirkung der Fotografie setzt offensichtlich auch Robert F. Hammerstiel, der seit über zehn Jahren verschiedene Strategien entwickelt, um subversive, d.h. nachdenklich machende Fotografien herzustellen.
Hammerstiel begibt sich auf wenig beachtete Territorien des Privaten, die noch nicht an den öffentlichen Bilderstrom angeschlossen sind, Reservate der bürgerlichen Welt, in der die Fähigkeit zum Selbstausdruck zwar rapide schwindet, aber noch nicht ganz erloschen ist. 4) Wollte man einen soziologisch genaueren Begriff verwenden, müßte man vom kleinbürgerlichen Milieu sprechen, in dem Hammerstiel meistens seine Bilder sucht. Er lehnt jedoch eine solche Kategorisierung ab, um sich nicht dem Mißverständnis auszusetzen, von oben herab eine Art Milieukritik zu üben. Ihm geht es um ein gesellschaftliches Feld, das am besten geeignet erscheint, als Spiegel zu dienen, als Spiegel, in dem sich der Betrachter wiederfinden kann (und wer wollte leugnen, daß das sog. Kleinbürgertum die Hauptrichtung anzeigt, aus der wir alle kommen?).
Vor die Ausführung seiner einzelnen Werkgruppen setzt Robert F. Hammerstiel eine gründliche Recherche, die man als eine Art "Archäologie des Intimen" bezeichnen könnte. So hat er für die Ausstellung "Glücksfutter" Reisen zu den Gewächshäusern nach Holland unternommen, wo die importierten Stecklinge der Yucca-Palmen zu jenem standardisierten Naturersatz "gestaltet" werden, der millionenfach in Blumentöpfen auf den Markt kommt. Er hat die Vertriebswege ebenso gründlich untersucht wie die Biologie der Pflanze und ihrer Möglichkeiten, sie als trostlosen Zimmerschmuck zu etablieren. Er hat sich in Zoofachgeschäften umgesehen, sich bei Tierhaltern, Fischzüchtern und Aquarienfreunden sachkundig gemacht. Er hat in Hundevereinen recherchiert und mit Dutzenden von Hundehaltern ausführliche Gespräche geführt, nicht um - einem Journalisten vergleichbar - am Ende einen Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit mehr oder weniger genau zu beschreiben, sondern um die Bilder zu finden, in denen die Dinge nicht mehr dem schnellen Gebrauch und Verbrauch unterliegen, sondern sich als widerständige, gegen-ständige Dinge erweisen. Durch auf menschliches Maß gebrachte Vergrößerungen und ihre der Werbefotografie abgeschaute Isolation in der Studiofotografie erhalten die Dinge, die sich in unseren Alltag eingeschlichen haben, eine Aura, einen gewissen Eigensinn, der den Blick umkehrt.
So entsteht das, was man mit Walter Benjamin ein "dialektisches Bild" nennen kann, eine Konstellation zwischen entfremdeten Dingen und der in diese Dinge durch die Betrachtung eingehenden Bedeutungen. 5) Die Alltagsgegenstände und -situationen, die Robert F. Hammerstiel fotografiert, werden durch den Prozeß der Ästhetisierung gewissermaßen ihres Gebrauchswertes entkleidet. Der Prozeß ist vergleichbar mit dem Absterben des Gebrauchswertes, der den Dingen im Laufe ihrer Geschichte eine neue Ausdruckskraft gibt. Ihr Chiffren- und Symbolcharakter tritt deutlicher hervor, als dies bei einer Betrachtung im normalen Kontext oder bei einer bloßen Isolierung als Ready-made der Fall wäre. Betrachten wir z.B. die Kratzbäume (Pussicat). Zunächst sind sie praktische Gegenstände, die für einen Tierliebhaber eine bestimmte Funktion erfüllen. Sie dienen dem Schutz der Polstermöbel und sollen dem Kletter- und Spieltrieb der Katzen entgegenkommen. Isoliert, als voll ausgeleuchtetes fotografisches Abbild und im Maßstab 1:1 vergrößert, tritt ihre eigenartige Form und das an Polstermöbel erinnernde Material hervor. Der Gegenstand weist sich eindeutig als Teil eines Interieurs aus. Auch wenn die heutige bürgerliche Wohnung nur noch wenig vom abgeschotteten gepolsterten "Futteral des Menschen" 6) hat, erinnern diese Dinge irgendwie noch an die "Poufs" und "Confortables", die Sitzmöbel des 19. Jahrhunderts mit ihren Polsterstoffen, ihren Kordeln und Kissen. 7) Es scheint, als ob das als Fluchtort inszenierte Wohngehäuse noch als eine Art abgesunkenes Kulturgut im Kratzbaum überlebt habe. Vielleicht ist es auch "Futter" für die verschüttete Kindheitsphantasie, sich in ein Baumhaus vor der Welt zurückzuziehen? Man kann davon ausgehen, daß die keineswegs billigen Objekte nicht einem bloßen Zufall oder den Launen irgendeines Angestellten der Herstellerfirma zu verdanken sind. Eher zu vermuten ist, daß ein gewisser professioneller Gestaltungswille am Werk gewesen ist. Ist es übertrieben, festzustellen, daß die nun in Hammerstiels Präsentationsform deutlich hervortretende Struktur des Objekts Elemente der modernen konstruktivistischen Skulptur des frühen 20. Jahrhunderts vorzeigt? Die verchromten Rahmen, in die Hammerstiel die Fotografien gefaßt hat, wirken wie eine ironische Bestätigung des vermuteten Vorbildcharakters künstlerischer Form.
Es scheint, als ob Hammerstiel seine Antennen ausgefahren hat, um die Hintergrundstrahlung des Big Bang unserer Kultur, der im 19. Jahrhundert stattgefunden hat, aufzufangen. Gleichzeitig fahndet er nach den Resten archaischer Bilder, den Pflanzen und Tieren als Ausdruck des organischen Lebens - Ausdruck der Sehnsucht, die Entfremdung von der Natur ungeschehen zu machen -, dem Meer als Bild der Ewigkeit, der Ruine als Sinnbild der Utopie und der Melancholie (das versunkene Atlantis).
Walter Benjamin hat die enge Verwobenheit von geschichtlich Bedingtem und archaisch Dauerndem im Wohnen treffend beschrieben: "Das Schwierige in der Betrachtung des Wohnens: daß darin einerseits das Uralte - vielleicht Ewige - erkannt werden muß, das Abbild des Aufenthalts des Menschen im Mutterschoße; und daß auf der anderen Seite, dieses urgeschichtlichen Motivs ungeachtet, im Wohnen in seiner extremsten Form ein Daseinszustand des 19. Jahrhunderts begriffen werden muß." 8) Bei aller Auflösung der Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem (auch eine Folge der durch Bilder vermittelten Massenkommunikation) gibt es immer noch Reste dieser "Wohnsucht" unserer Eltern und Großeltern. Hammerstiel faßt diese Erkenntnis in ein schönes Bild, das er nicht von ungefähr mit den Bildern der Kratzbäume konfrontiert: An der Wand fixierte Kissen, Symbole kindlicher Sehnsucht nach Geborgenheit und wohl deshalb auch ein immer noch dominantes Zeichen kleinbürgerlicher Wohnkultur, tragen die Wurzeln ihrer Symbolhaftigkeit als Bild: Auf den Kissen sind Familienportraits zu sehen, gestaltet nach der längst veralteten Form der Gruppenbilder, wie man sie früher anläßlich besonderer Familienfeste beim Fotografen im Studio machen ließ.
Auch bei seinen Portraits der Yucca-Palmen (Yucca I, YuccaII ) trifft Hammerstiel eine Schnittstelle zwischen historisch überkommenen Bildern einerseits und der Hintergrundfolie kollektiver Sehnsüchte andererseits, die sich aus mythischen Quellen speisen. Schon im frühen 19. Jahrhundert gehören Versatzstücke aus der Natur zum Interieur. Der Glaspalast auf der Weltausstellung in London 1851 mit seinen Palmen wurde z.B. zum Symbol technologischen Fortschritts, jedoch bald darauf für Jahrzehnte auch zur Projektionsfläche für Natursehnsucht und Exotismus (das verlorene Paradies): Reproduktionen des gigantischen Treibhauses mit seinen Palmen hingen bis ins 20. Jahrhundert in den bürgerlichen Wohnstuben und bereiteten so den Einzug exotischer Zimmerpflanzen vor - noch bevor der Massentourismus die Sehnsüchte nach den Südseeparadiesen als erfüllbar erscheinen ließ. Auch hier nimmt Hammerstiel wieder eine pointierte Schnittstelleninszenierung vor. Ein Ready-made zeigt im Stile der Fotografie von Reiseprospekten einen Meeresstrand in der Südsee. Im Bild sind rechteckige Leerstellen eingelassen, die mit der fotografischen Ausbeute vor Ort, d.h. den Erinnerungsfotos, ausgefüllt werden können. Große "Portraits" von Yucca-Palmen-Stecklingen entlarven den Fetischcharakter der Topfpflanze ebenso, wie sie die Verwandlung der Natur zur Ware darstellen. Das Bild des massenproduzierten Stecklings verzerrt den Prozeß des Klonens zur Kenntlichkeit. Da die Sehnsucht unstillbar bleibt, ist garantiert, daß der Warenstrom nie versiegt. Die Logik, die in der Korrespondenz von Waren und Bildern liegt, ist offensichtlich: Der Warencharakter der Pflanze steht einer Befriedigung der Sehnsucht entgegen. Das ungestillte Begehren garantiert den fortlaufenden Verschleiß der Ware.
Das Bild des schmucklosen Stecklings ist im Grunde das Bild einer "kastrierten" Natur: Das obere Ende ist mit Wachs verschlossen, das untere Wurzelende mit Plastik umhüllt. Die Palmstämme dürfen nicht mehr wachsen. Sie haben nur noch die Funktion, grüne Blätter zu treiben, d.h. nur ein verkleinertes Bild, gewissermaßen ein Modell einer Palme zu liefern. Auch wenn Hammerstiel die fotografischen Abbilder im genauen Maßstab vergrößert, die Stecklinge auf den Bildern also die gleiche Größe haben wie in Wirklichkeit, nehmen sie insbesondere durch die absurd erscheinende Reihung eine monströse phallische Dimension an. Da die Abbilder hinter Glas wie in Schauvitrinen präsentiert sind, erhalten die Bilder Objektcharakter. So ergibt sich auch auf der formalen Ebene eine Dialektik des Bildes: Die Wahrnehmung oszilliert zwischen identifizierbarem Objekt und Bedeutung tragendem Zeichen. Eine weitere Ebene der Wahrnehmung schafft Hammerstiel mit dem Blow up einer Fotografie von plastikverpackten Blumentöpfen, die er in einem Möbelhaus entdeckt hat. Das Verfahren der Verdoppelung erinnert an die bereits erwähnte Tautologie in der Werbefotografie, wird jedoch hier auf der Reflexionsebene der Ausstellung zur aufklärenden Analyse. Es geht um das Vorzeigen der Bildhaftigkeit und des Fetischcharakters der Ware.
Gerade bei dem Projekt "Glücksfutter", für das Hammerstiel eine besondere, auf die Gegebenheiten des Ortes zugeschnittene Präsentation gewählt hat, wird deutlich, auf welche Art der Wahrnehmung die Bilder zielen. Der Betrachter wird durch die sequentielle Anordnung der Dinge und Räume zum Flaneur, dem die Dinge, wie Walter Benjamin es beschreibt, wie im Traum zustoßen. Der Betrachter wird zu einer Art Sammler, dem die Gegenstände - aus ihrer ursprünglichen Funktion gelöst - ihre wahre tiefere Physiognomie zeigen. Walter Benjamin hat auch auf das verborgenste Motiv des Sammelnden hingewiesen: "Er nimmt den Kampf gegen die Zerstreuung auf." 9) Da bei unvollständigen Sammlungen sich die Dinge als Bruchstücke eines großen Ganzen ins Allegorische wandeln, werden sie für den Betrachter zu Generatoren für seine Phantasie, die sich aus seinen eigenen Erfahrungen und seinen inneren Bildern nährt. Die Dinge werden "Stichworte eines geheimes Wörterbuches" 10), das der Betrachter selbst schreiben muß. Hilfreich sind dabei die Titel, die ebenso poetisch wie konkret das Assoziationsfeld vorgeben, in dem die Dinge ihre allegorische Kraft entfalten können.
Zum Beispiel "Rex I und II ": Natürlich muß es einem Österreicher ein besonderes Vergnügen machen, auf die populäre Fernsehserie anzuspielen, in der ein Schäferhund die kriminalistische Feinarbeit macht, zu der die menschlichen Protagonisten nicht mehr in der Lage sind. Die beliebte Fernsehserie wirft aber auch die Frage auf, was es bedeutet, daß ein Hund als Hüter des Gesetzes glaubwürdiger, klüger und moralischer wirken kann als ein Mensch. Die zwei Installationen, die sich auf das Verhältnis des Menschen zum Hund beziehen, bilden den Kern der Werkgruppe, die Hammerstiel unter dem Titel "Glücksfutter" zusammengefaßt hat. Dabei wird nicht nur die von Peter Zawrel beschriebene Methode deutlich, mit der die Bilder zwischen Poesie, Kritik und Ironie in der Schwebe gehalten werden, sondern auch Hammerstiels Fähigkeit, über Nebenschauplätze gesellschaftlicher Wirklichkeit einen neuralgischen Punkt menschlicher Befindlichkeit zu treffen.
Es ist, also ob Hammerstiel Kafkas Äußerungen aus den "Forschungen eines Hundes" zum Programm gemacht habe: "Alles Wissen, die Gesamtheit aller Fragen und aller Antworten ist in den Hunden enthalten." 11) Der Hund wurde, wie die amerikanische Kulturanthropologin Marjorie Garber feststellt, "zum Bewahrer jener mustergültigen menschlichen Qualitäten, die wir zynischerweise unter Menschen nicht mehr zu finden erwarten". Werte wie "Verantwortungsbewußtsein, Loyalität, Mitleid und Mut scheinen zunehmend nur noch im Verhältnis zu Hunden Geltung zu haben und werden in unserer Gesellschaft z.B. durch anrührende Hundegeschichten vermittelt." 12) Schon Thomas Mann hat als Chronist der absterbenden bürgerlichen Gesellschaft bemerkt, daß der Hund zum Symbol der beschützten Privatheit geworden ist. 13) Seit der berühmten Checkers-Rede von Richard Nixon (Checkers war der Name seines Hundes, über den er öffentlich im Fernsehen sprach, um Delegierte des Parteitages für sich einzunehmen) ist der Hund sogar ein unerläßliches Accessoire im Weißen Haus geworden, um die moralische Integrität des Präsidenten zu bezeugen. Hunde, so haben Psychologen und Anthropologen ausgemacht, scheinen zunehmend als Stellvertreter Kompensationsfunktion zu erhalten: Sie kommen den wachsenden narzißtischen Neigungen der unter Isolation leidenden Menschen entgegen. Gleichzeitig kompensiert ihre scheinbar bedingungslose Liebe das zunehmende Gefühl eines Identitätsverlustes in der Massengesellschaft.
Hammerstiel will keinesfalls die portraitierten Hundebesitzer in irgendeiner Form bloßstellen. Ihre Portraits, aufgenommen in der stereotypen, der Polizeifotografie entlehnten flach ausgeleuchteten Frontalansicht bleiben klein und sind ironischerweise in einer Höhe angebracht, die dem Blick von Hunden angemessen erscheint. Hammerstiel kehrt also das Verhältnis von Herr und Hund um. Und es scheint, als ob aus dem unergründlichen Blick der Hunde (die in die Kamera schauen und daher den Betrachter anblicken) die stärkere Individualität spricht. Die aufgereihten - zwischen Menschen und Hundeportraits vermittelnden Hundeleinen scheinen plötzlich als Zeichen der klaren Unterordnung und Beherrschung nicht mehr eindeutig. (Wer beherrscht wen?) Ist die anklingende sexuelle und erotische Konnotation ganz von der Hand zu weisen? (Die Assoziation von Hunden mit der sexuellen Unmoral hat eine lange Geschichte.) 14)
Eine ganze Industrie lebt heute von der Hundehaltung, wobei von der Futterherstellung bis zum Hundespielzeug eine zunehmende Anthropomorphisierung des Hundes beobachtet werden kann. (Schon verschreiben Tierärzte in Amerika Hunden z.B. Pillen gegen Depressionen!) Vielleicht ist auch der von Hammerstiel präsentierte Microchip (Transponder), der zur Identifizierung Hunden unter die Haut gepflanzt wird, ein Ausdruck dieser Anthropomorphisierung, denn er soll wie ein Fingerabdruck (oder wie ein genetischer Code) die Unverwechselbarkeit, das Individuelle schlechthin verbürgen und bestätigt doch nur die Existenz einer Ware. Blickt also der Mensch, wenn er die aus der Medizin so vertraute Injektionsnadel anschaut, in seine eigene Zukunft? Wie das säkularisierte Orakel von Delphi steht ein Automat, mit Hundespielzeug gefüllt, in der Ausstellung (in der Saarbrücker Inszenierung). Was uns auch der Glücksautomat im Tausch gegen Geld beschert, es ist verführerisch und enttäuschend zugleich. Und wir sehen plötzlich, von welcher Art das "Glücksfutter" ist. So können sich unter unseren Augen Waren zu Metaphern verwandeln. Es sind "gesellschaftliche Produkte und zugleich objektive Konstellationen, in denen der gesellschaftliche Zustand sich selbst darstellt." 15)
- Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt 1989
- ders., a.a.O.
- ders., a.a.O.
- siehe Richard Sennett: The Fall of Public Man, New York 1974
- Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Bd. I, Frankfurt 1982
- ders., a.a.O.
- Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung, Hamburg 1994
- Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Bd. I, Frankfurt 1982
- ders., a.a.O.
- ders., a.a.O.
- Franz Kafka: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß. Frankfurt 1976
- Marjorie Garber: Dog Love, New York 1996
- Thomas Mann: Herr und Hund
- Marjorie Garber: Dog Love, New York 1996
- T. W. Adorno an W. Benjamin. In: Das Passagen-Werk, Bd. II, Frankfurt 1982
Bernd Schulz, Saarbrücken 1998